Ehrenamt verpflichten?
Immer wieder taucht der Vorschlag auf, ein soziales Jahr zur Pflicht zu machen. Was spricht dafür, was dagegen?
Ehrenamtliche engagieren sich vielfältig. Mit dem guten Gefühl, der Allgemeinheit etwas zu geben und Verantwortung zu übernehmen. Vor allem seitens der Politik taucht immer wieder der Vorschlag auf, ehrenamtliche Tätigkeiten zur Pflicht zu machen, ein „soziales Pflichtjahr“ einzuführen. Ist das sinnvoll?
Mehr Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an gesellschaftlichen Aufgaben: Das wünschte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Sommer 2022 für seine zweite Amtszeit. Mehr persönlichen Einsatz für andere und damit die Sicherung der Demokratie. Das deutsche Staatsoberhaupt stieß – einmal wieder – damit die Debatte um die Einführung eines sozialen Pflichtjahres an.
Zustimmung erhielt Steinmeier vor allem von der CDU. Diese stimmte auf ihrem Parteitag 2022 in Hannover für die Einführung eines sogenannten Gesellschaftsjahres, allerdings ohne zeitliche oder altersmäßige Begrenzung. Anna Köhler, stellvertretende Vorsitzende der Jungen Union, wirbt auf der Website ihrer Partei für ein verpflichtendes statt freiwilliges Gesellschaftsjahr: „Wir lernen in der Schule verpflichtend Lesen und Schreiben. Man kann genauso soziales Miteinander und soziale Bildung zu einer Lernpflicht machen.“ Hans-Peter Pohl, Landesvorsitzender der Senioren Union Brandenburg, pflichtet bei: Ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr könne helfen, die Spaltung der Gesellschaft zu überbrücken. Auf ihrer Internetseite räumt die CDU – mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten – jedoch ein: „Eine Verpflichtung ist und bleibt ein Eingriff in die persönliche Freiheit, und die braucht einen guten Grund.“
Zahl der Ehrenamtlichen ist gestiegen: Ist die Pflicht ohnehin überflüssig?
Doch wie ist es um freiwilliges Engagement in Deutschland eigentlich bestellt? Ein Blick in die Statistik zeigt: Die Zahl derer, die ehrenamtlich tätig sind, ist in den letzten 20 Jahren um fast 10 Prozent gestiegen. Der letzte große Freiwilligensurvey hat ergeben, dass sich im Jahr 2019 in Deutschland insgesamt knapp 40 Prozent der Personen ab 14 Jahren – also 28,8 Millionen Menschen – freiwillig engagieren.
Dass ehrenamtliches Engagement einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Demokratie leistet, steht für Astrid Neumann, Leiterin der Koordinierungsstelle „weltwärts“ bei Engagement Global, außer Frage. Sie betont: „Auch die Freiwilligen selbst profitieren: durch Einblicke in eine andere Kultur, verbesserte Sprachkenntnisse und persönliche Weiterentwicklung.“ Eine Pflichtzeit sieht sie kritisch: „Wer an einem Freiwilligendienst teilnimmt, erlebt oft einen Perspektivwechsel, der das eigene Leben, die eigenen Verhaltensweisen verändert und zu einem langfristigen Engagement führt. Das ist bei einem verpflichtenden Freiwilligendienst nicht unbedingt der Fall.“
Pflichtjahr: Gegenwind von der Ampel
Die Parteien der Ampel-Regierung haben Steinmeiers Vorstoß abgelehnt und setzen lieber auf Freiwilligkeit. Insofern ist eine Pflichtzeit auch nicht im Koalitionsvertrag vorgesehen. SPD, Grüne und FDP sind sich vielmehr einig darin, dass die bestehenden Freiwilligendienste aufgestockt und die Rahmenbedingungen verbessert werden müssen. Dieser Meinung schließen sich viele Wohlfahrtsverbände an. So äußerte sich zum Beispiel Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, im SWR: Man müsse unter Umständen „Menschen rekrutieren, die überhaupt keine Lust haben und vielleicht auch ungeeignet sind. Das wollen wir nicht.“ Das sei zum Beispiel in einem Pflegeheim sowohl den Bewohnerinnen und Bewohnern als auch deren Angehörigen nicht zumutbar.
Studie: Mehrheit der Bevölkerung für eine Pflichtzeit
Eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigt allerdings, dass die Zustimmung zum Pflichtjahr in der Bevölkerung relativ hoch ist: 64 Prozent würden einer flexibel gestalteten Pflichtzeit unabhängig vom Alter zustimmen, nur etwa ein Drittel ist dagegen. Insbesondere die 14- bis 26-Jährigen sehen eine Pflichtzeit als unnötige Verzögerung von Ausbildung und Studium und lehnen sie ab. Drei Viertel der Befragten sind der Auffassung, dass eine größere gesellschaftliche Anerkennung, ein besserer Zugang zu Informationen, Maßnahmen wie eine Verkürzung von Wartezeiten bei der Zulassung zum Studium sowie finanzielle Anreize wie Steuervergünstigungen oder eine Anrechnung auf die Renten ein soziales Engagement deutlich attraktiver machen würden.
Keine Pflicht, sondern Möglichkeiten
So sieht es auch Susanne Huth vom Institut für berufliche Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (involas), die die Studie „Freiwilligendienste in Deutschland – Stand und Perspektiven“ als Autorin verantwortet. Sie ist überzeugt: „Wir brauchen keine Pflicht, sondern Möglichkeiten.“ Gerade junge Menschen müssten einen besseren Zugang zu gesellschaftlicher Arbeit bekommen. Das sei über eine Verpflichtung nicht zu erreichen, sondern „durch eine bessere Informationslage und eine gezielte Ansprache von jungen Menschen auch aus bildungsferneren Elternhäusern. Wir schaffen das dadurch, dass wir die Einsatzfelder attraktiv gestalten und dass wir den Wert und Nutzen eines Freiwilligendienstes besser vermitteln.“ Interessant seien auch Anerkennungsmöglichkeiten, zum Beispiel für einen weiteren Schulabschluss oder eine berufliche Qualifizierung. „Die Rahmenbedingungen spielen eine große Rolle: Einen Freiwilligendienst muss man sich leisten können.“, ergänzt Huth. Die Tendenz, dass die jüngere Generation sich von der Gesellschaft entsolidarisiert, sieht Huth hingegen nicht: „Junge Menschen engagieren sich sehr gerne für andere Menschen, wenn ihnen die Möglichkeiten dazu geboten werden.“
Rechtliche und organisatorische Hürden
Der Einführung einer verpflichtenden Sozialzeit stünden einige rechtliche Hürden im Weg. Allen voran: Das Grundgesetz verbietet – von wenigen Ausnahmen abgesehen –, dass Menschen zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden. Für eine Grundgesetzänderung wäre eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag notwendig. Aktuell wäre diese nicht zu erreichen. Viele Fragen müssten außerdem noch geklärt werden, nicht zuletzt die Finanzierung des Programms oder der Umgang mit Personen, die diesen Dienst verweigern.
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