Mindestlohn - aber nicht für alle?

Wer derzeit mit Lukas Krämer sprechen will, muss rechnen: Der 30-jährige Inklusionsaktivist ist seit Januar in Japan und damit unserer Zeit um sieben Stunden voraus. 10 Uhr in Berlin entspricht 17 Uhr in Tokio. Lukas sitzt vor seinem Computer in einem hellen Zimmer und erzählt von seiner Arbeit und seinem Aktivismus. Um zu verstehen, wie beides miteinander zusammenhängt, müssen wir einen Schritt zurückgehen.
 
„Ich bin Lukas Krämer. Ja, ich bin behindert“
 
Und zwar ein paar Jahre zurück, in den März 2021. Damals hat Lukas genug gehabt. Genug Arbeit, aber nicht genug Lohn dafür. Lukas hatte als Kind eine Hirnhautentzündung, seine Nervenbahnen wurden dadurch geschädigt. Er kann nicht lesen und nicht schreiben, die Behinderung macht ihm ein normales Leben unmöglich. Nach dem Besuch einer Förderschule arbeitete er also in einer Werkstatt für behinderte Menschen in Rheinland-Pfalz. Dort war er 6,5 Stunden am Tag im Einsatz, für 1,35 Euro die Stunde. Und das machte ihn schlussendlich wütend. Denn von solch einem Lohn kann niemand leben, zumindest nicht ohne zusätzliche Grundsicherung vom Staat. „Teilhabe“ wird dieses Modell genannt. Für Lukas ein, gelinde gesagt, Euphemismus: „Unser Lohn soll also sein, dass wir überhaupt arbeiten dürfen und für andere Gewinn machen? Das ist an Frechheit nicht zu überbieten.“
 
Auf seinem YouTube-Kanal Sakultalks postete er Videos über das, was er als Ausbeutung empfand. Tausende Menschen klickten auf seine Videos. So wurde schließlich die Plattform change.org auf ihn aufmerksam und half ihm, eine Petition für sein Anliegen zu launchen: „#StelltUnsEin – Ich fordere den Mindestlohn für Menschen in Behindertenwerkstätten!“ Gut 200.000 Unterschriften hat er seitdem schon gesammelt.

Lukas Krämer setzt sich dafür ein, dass Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, besser bezahlt werden. © Lukas A. Stolz

Entgelt statt Lohn – ungerecht?
 
Lukas fordert die Politik auf, nicht nur den Mindestlohn für Menschen mit Behinderung zu garantieren, sondern auch den Status der Beschäftigten in den Werkstätten zu ändern. Laut Sozialgesetzbuch gelten Behindertenwerkstätten als Einrichtungen zur Rehabilitation, die dort Arbeitenden also nicht als reguläre Arbeitnehmer*innen, sondern als lediglich in einem Beschäftigungsverhältnis stehend. Sie bekommen Entgelt statt Lohn. Ein feiner Unterschied. Auf der einen Seite bedeutet er, dass sich diese Menschen nicht gewerkschaftlich organisieren können, was Lukas moniert. Auf der anderen Seite beinhaltet dieses Beschäftigungsverhältnis aber durchaus alle Schutzrechte von Arbeitnehmer*innen, zum Beispiel Mutterschutz und Urlaubsanspruch, wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen betont. Zudem können dort Angestellte weder gekündigt noch abgemahnt werden, da – anders als auf dem ersten, regulären Arbeitsmarkt – auch keine Leistungsverpflichtung bestehe.
 
Eine Leistungsverpflichtung gibt es also zwar nicht, aber dennoch wird dort geleistet: In den Behindertenwerkstätten werden Dienste im Bereich Facility-Management ausgeführt, Akten vernichtet, Wäsche gewaschen, es wird Holz geleimt oder Essen gekocht. Die mehr als 300.000 Beschäftigten in den Behindertenwerkstätten generieren Umsatz. In Deutschland sind das etwa acht Milliarden Euro im Jahr.
 
Lukas meint: Wenn er zu diesem Umsatz beiträgt, will er auch entsprechend entlohnt werden. Er fühlte sich ausgenutzt. Auch die Kampagne JOBinklusive sieht diese Werkstätten kritisch: „Die Behindertenwerkstätten arbeiten wirtschaftlich orientiert und konkurrieren längst mit anderen Billiglohnanbietern aus dem Ausland.“ Das sei auch ein Grund dafür, dass diese Werkstätten politisch gewollt seien. „Gleiches kann von einer Inklusion in der Arbeitswelt leider nicht behauptet werden.“
 
Inklusion – ein weites Feld
 
Gudrun Wansing ist Professorin für Rehabilitationssoziologie an der HU Berlin. Sie beschäftigt sich intensiv mit dem Begriff der Inklusion und bemüht sich um eine Einordnung der Debatte: „Deutschland hat auch im europäischen oder internationalen Vergleich eine sehr starke Tradition der Separation, das heißt der besonderen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung.“ Das sei historisch gesehen durchaus eine Errungenschaft, denn solche Einrichtungen sorgten dafür, dass Menschen mit Behinderung berufliche Bildung, Beschäftigung und eben auch Teilhabe erlangen könnten – auch wenn dieses System selbst Nachteile habe und Inklusion und Teilhabe auf anderen Ebenen wiederum einschränke.
 
Lukas jedenfalls hat genug von diesen Nachteilen. Er sieht die Politik unter dem Zugzwang, sich mit dem Thema intensiv zu beschäftigen. Seine Forderung nach Mindestlohn bleibt. Er selbst hat aus der Situation Konsequenzen gezogen. Schon lange wollte er mal nach Japan. Die Möglichkeit, dort für ein Jahr lang „Working Holidays“ zu machen, hat ihm diesen Traum schließlich erfüllt. Seit Längerem arbeitet er nicht mehr in einer Werkstatt. Stattdessen hat er sich selbstständig gemacht und schneidet Videos für Kund*innen. Die Bildbearbeitung hat er sich bereits vor Jahren selbst beigebracht. Aufträge hat er genug, sagt er. Er will arbeiten – aber für Geld.

 

Und was denkst Du?

Wie soll Inklusion aussehen? Diese Frage stellen wir uns auch immer wieder. Derzeit arbeiten über 1.200 Menschen mit einer Schwerbehinderung bei dm. Aber was können wir tun, damit noch mehr Menschen am gesellschaftlichen Leben möglichst vollumfänglich teilhaben können? Und: Macht Diversität ein Unternehmen erfolgreicher? Wir wollen wissen, wie du zu diesem und weiteren Themen stehst, die für unsere Zukunft entscheidend sind. Anlässlich des 50. Jubiläums lädt dm dich zum Dialog ein: Mach mit bei „Und was denkst Du?“ und teile uns innerhalb der Umfrage mit, wie du dir deine eigene und unsere gemeinsame Zukunft vorstellst.

Eine Woche Zukunft

dm feiert in diesem Jahr unter dem Motto "Lust auf Zukunft" 50-jähriges Jubiläum und bringt auf der Zukunftswoche vom 25. bis zum 29. September namhafte Repräsentantinnen und Repräsentanten aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft, Medien und Kultur miteinander in den Dialog. Im Vordergrund stehen dabei die fünf Zukunftsthemen: Das Ich im Wir, Ökologische Zukunftsfähigkeit, Kinder und Jugendliche, Neue Arbeitswelten und Gesundheit. Für diese Themen engagiert sich dm gemeinsam mit Partnern wie Dove, L’Oréal und P&G.

 

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