Digitalisierung

Kann uns Digital Detox wirklich retten?

Spoiler: Nein, denn Verbote waren noch nie eine gute Lösung. Was stattdessen helfen kann, wenn wir digital überfordert sind, ist ein bewusster Umgang mit Technologie – und Medienkompetenz.

Dieser Text beginnt mit einer Aufgabe. Wenn du eh gerade dein Handy in der Hand hast, musst du es gar nicht weglegen, sondern nur in deinen Einstellungen schauen, wie viel Zeit du heute schon mit deinem Smartphone verbracht hast. Keine Lust? Okay, ich gehe in Vorleistung: Insgesamt habe ich heute bereits 50 Minuten mit meinem Handy verbracht.

Der Tag ist nicht einmal zur Hälfte rum. Insgesamt war ich bereits 34 Minuten auf Instagram unterwegs, habe mein Handy 26 Mal aktiviert, also in die Hand genommen und den Screen entschlüsselt. Wenn ich mir die Statistik meiner vergangenen Woche anschaue, sieht es übel aus: Im Schnitt habe ich täglich 02:17 Stunden mein Handy in der Hand gehabt, es im Schnitt jeden Tag 51 Mal aktiviert. Ist das jetzt viel, oder wenig? Oder einfach nur angemessen?

Geht es nach den großen Überschriften in den Medien, dann ist die Digitalisierung unser Untergang, aber gleichzeitig auch unsere größte Chance. Wir leben in digitalen Zeiten, wir alle haben es verstanden. Ohne geht nicht, aber mit macht uns krank. Digitaler Burnout ist das Stichwort, digitale Einsamkeit ein weiteres. Wir sind ständig online, hoch vernetzt, und finden dennoch keinen gemeinsamen Ansatzpunkt für echte, soziale Interaktion. Und erst die ganzen schlechten Nachrichten, die uns ständig via Push-Message erreichen! Vielleicht sind wir gescheitert. Vielleicht fahren wir aber auch mal alle einen Gang zurück.

Wie viel Zeit sollte man im Internet verbringen?

Denn ja, wir hängen am Handy. In der U-Bahn, wenn wir auf eine Verabredung warten, und sogar sehr oft, wenn wir eigentlich besseres zu tun hätten. Wenn viele unserer Eltern sagen „So etwas hätte es früher nicht gegeben!“, dann lautet unsere nüchterne Antwort: „Stimmt. Denn früher gab es keine Smartphones.“

Allerdings ist früher jetzt schon eine Weile her und stattdessen gibt es so etwas, das wir Gegenwart nennen. Und in der sind Smartphones wahnsinnig nützlich. Sie zeigen uns den Weg, wenn wir uns verlaufen haben. Mit ihnen können Frauen, die sich auf dem dunklen Nachhauseweg fürchten oder bedroht fühlen, mit ihren Freund:innen telefonieren und so sicherer nach Hause kommen.

Apps helfen uns dabei, unser Leben zu ordnen und zu sortieren. Mails und Messanger-Dienste sorgen dafür, dass wir mit unseren Liebsten in Kontakt bleiben. Wir haben ständig eine Kamera dabei, ein Notizheft, ein Unterhaltungsprogramm. Für eine Überweisung müssen wir nicht mehr zur Bank. Generell: Viele Wege werden uns abgenommen und dadurch haben wir mehr Zeit. Naja. Außer man hängt, wie ich, 02:17 Stunden pro Tag am Handy.

Ups, wo ist mein freier Nachmittag hin?

Auch das gehört zur Wahrheit: Für viele, zumindest für mich, ist es ein schmaler Grad zwischen produktivem Nutzen und verplemperter Zeit. Die Ergebnisse der Digitalkompetenz-Studie der Techniker Krankenkasse bestätigen das: Rund 60 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich manchmal dabei erwischen, länger online zu bleiben, als geplant. Gottseidank, ich bin damit nicht alleine.

Unsere Daten machen Tech-Companys reich

Natürlich steckt dahinter ein Bestreben: Die Sozialen Netzwerke zum Beispiel verdienen Geld damit, dass wir möglichst lange unsere Zeit mit ihnen verbringen. Denn je länger wir uns digital bewegen, desto mehr Daten sammeln die Tech-Companys. Mit unseren Daten verdienen sie ihr Geld – und das ist mir auch bewusst.

Denn ich bin zwar Digital Native, aber nicht digital naiv. Ich kenne die Gefahr von Algorithmen, die mir zeigen, was ich sehen will. Ich weiß, dass mein Gehirn das Glückshormon Dopamin ausstößt, sobald ich ein Like auf Instagram bekomme. Ich weiß sogar, dass die Taktik dahinter genau die gleiche ist, wie bei einem Einarmigen Banditen im Casino: Das Ganze nennt sich Random Reward. Damit ist gemeint, dass es mich sogar noch glücklicher macht, wenn ich nicht weiß, wann ich gewinne, also wann ich ein Like bekomme – und deswegen öfter die App checke. Ich kenne auch das Konzept der Fake News. Ich weiß, dass es mein Gehirn anstrengt, wenn ich zwischen verschiedenen Apps hin und her slide, und dass das Konzept Multitasking eine Illusion ist.

Ich bin zwar Digital Native, aber nicht digital naiv. Ich kenne die Gefahr von Algorithmen, die mir zeigen, was ich sehen will.

87 Prozent der Befragten der Studie wollen versuchen, weniger Zeit im Internet zu verbringen. Ich kenne das auch. Vielleicht ist es auch dir nicht fremd. Denn oft, wenn man so am Smartphone rumhängt, bemerkt man gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Stattdessen scrollen wir weiter und weiter. Auch dafür gibt es einen Begriff: Doom Scrolling. Kurz, ich kenne die Theorie. Aber ich übe die Praxis kaum. Und das ist das Problem. Es ist wie in der Schule: Rein theoretisch wissen wir alles über die zweite binomische Formel, aber wir scheitern an der Textaufgabe. Wie geht das jetzt nochmal konkret?

Digitalkompetenz nicht nur kennen, sondern üben

Wenn wir über Medien- und Digitalkompetenz sprechen, verstehen wir zwar die Herausforderungen und die Theorie dahinter. Aber wir gestehen uns nicht zu, zu üben, und dabei Fehler zu machen, aus denen wir lernen. Denn auch im Umgang mit Technologie wird nicht jede Methode, beispielsweise eine Limitierung der Bildschirmzeit, für jede:n funktionieren. Um aber herauszufinden, was individuell gut funktioniert, muss man es ausprobieren und sich zugestehen, dabei zu scheitern.

Die Lösung kann dann nicht sein, es komplett aufzugeben. Sondern sich eine neue Methode zu überlegen, die für dich gut funktioniert. Zum Beispiel für bestimmte Uhrzeiten das Handy außer Sichtweite zu legen. Eine andere Möglichkeit kann sein, die Benachrichtigungen auf dem Smartphone zu deaktivieren. Ein neuer Kommentar? Eine neue Nachricht? Bekommst du dann mit, wenn du dich bewusst dafür entscheidest und die App öffnest. Das habe ich gemacht und es hilft mir, nicht ständig vom blinkenden Screen abgelenkt zu werden.

Oder wer beim Blick in die sozialen Netzwerke denkt, das eigene Leben sei irgendwie nicht gut genug, kann sich klar machen: Wem du folgst bestimmst immer noch du selbst. Du hast die Macht, deinen Feed zu kuratieren. Auch damit kann man eigenverantwortlich umgehen.

Ein paar Tage off ist immer nur eine Übergangslösung

Und natürlich kann es auch helfen, ein paar Tage komplett auf das Handy zu verzichten. Aber Digital Detox ist immer nur eine Übergangslösung. Sollte nicht ein ganz bewusster Umgang und das Bewusstsein unserer Bedürfnisse mit der Technologie das eigentliche Ziel sein? Aber dazu müssen wir uns fragen, was das Smartphone für uns tun soll. Wo hilft es uns wirklich weiter, wo frustriert es uns und wann haben wir sogar ein ganz und gar fürchterliches Gefühl, wenn wir es nutzen? Zu prüfen, was gut tut und was nicht, und sich dann selbst ernst nehmen – das führt zu einem gesünderen Umgang. Dieser Weg darf individuell sein. You do you.

Denn nicht alles auf dem Smartphone macht Spaß. Niemand will die Gefahren verherrlichen, sie sind da: 97 Prozent der Befragten der Studie gaben an, dass ihre Daten schon einmal missbräuchlich verwendet wurden. Die Ergebnisse einer anderen Studie zum Thema Cybermobbing haben klar gezeigt, dass Mobbing im digitalen Raum stark zugenommen hat und es noch zu wenige Präventionsangebote gibt, die Aufklärungsarbeit leisten. Wie wichtig diese Maßnahmen jedoch sind, wird klar, wenn man sich bewusst macht: Beim Cybermobbing sind es nicht die Smartphones, die mobben, sondern die Menschen, die sie nutzen. Deswegen wird es wahrscheinlich nichts bringen, das Smartphone als Feind zu begreifen.

TKEvent3

Event: Bereit für die Zukunft?

Wenn du mehr über die Themen Digitalisierung und Zukunft wissen willst, dann haben wir noch einen digitalen Veranstaltungstipp: Am 18.11. ist der nächste Thementag im Rahmen der #howitworks-Initiative von ZEIT Campus und Die Techniker: „Bereit für die Zukunft? Wie du ein (digitaler) Visionär wirst“. Jetzt anmelden!

Deine Mutter hängt auch auf Instagram rum

Ein konstruiertes Feindbild ist zu kurzfristig gedacht, denn ständig online zu sein ist keine Nische mehr, sondern längst gesellschaftlicher Standard – auch das ist ein Ergebnis der TK-Studie. 76 Prozent der Befragten sind mehrfach pro Tag oder ständig online und zwar über alle Altersklassen hinweg. 92 Prozent der Befragten, die zwischen 18 bis 33 Jahre alt sind, aber eben auch 63 Prozent der Altersklasse 50 bis 65 Jahre. Denk mal an zehn Leute, die über 50 sind und die du gut kennst. Sechs von Ihnen sind ständig online. Dein Vater. Die Nachbarin. Dein Prof aus der Vorlesung.

Meine Mutter sagt, ihr Handy ist inzwischen ein Fotoalbum. Immer, wenn sie wen vermisst, hat sie die Erinnerung bei sich. Meine Kollegin sagt, ohne ihr Handy würde sie nicht wissen, wann die nächste Bahn fährt – denn in Berlin sind die Pläne an den Haltestellen nie aktuell, die App schon. Ich nutze mein Handy für schnelle Notizen, eine Sammlung verschiedenster Momente. Die sozialen Netzwerke machen mich manchmal irre, aber sie inspirieren mich auch sehr. Ich sehe Lebenswelten von Menschen, die mir sonst verwehrt blieben.

Ich sehe das Potenzial und die Gefahren. Und ich weiß: Ich habe das ganze „Ich-bestimmte-die-Technologie,-nicht-die-Technologie-mich“-Game noch nicht gemeistert. Aber ich übe. Und wer übt, wird besser.

 

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